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Geowissen

Riesige Untersee-Rutschung überrascht Geologen

Urzeitliche Mega-Lawine vor Marokko hatte verblüffend kleinen Auslöser

Agadir-Canyon
Im submarinen Agadir-Canyon vor Marokko hat sich vor knapp 60.000 Jahren eine gigantische Untersee-Rutschung ereignet – die bisher längste der Welt. © Christoph Böttner/ Universität Aarhus

Submarine Katastrophe: Vor der Küste von Marokko ereignete sich vor knapp 60.000 Jahren eine Untersee-Rutschung im Megamaßstab – die längste weltweit. Sie riss rund 162 Kubikkilometer Schlamm und Geröll mehr als 2.000 Kilometer weit in den Atlantik hinaus. Das Überraschende jedoch: Diese unterseeische Lawine begann ganz klein und wuchs erst in ihrem Verlauf auf das gut hundertfache Volumen an, wie Forschende in „Science Advances“ berichten. Ein so rasantes Wachstum ist von keiner anderen irdischen Rutschung bekannt.

Schlamm- und Gerölllawinen gibt es nicht nur an Land – auch unter Wasser kommt es immer wieder zu gewaltigen Rutschungen. Durch Erdbeben, Gashydrate oder Turbulenzen in Untersee-Canyons können an vor allem an den Kontinentalhängen große Sedimentmassen abrutschen – mit katastrophalen Folgen. So ließ die Storegga-Rutschung vor gut 8.100 Jahren weite Teile des eiszeitlichen Doggerland in der Nordsee versinken. Die bisher längste Untersee-Rutschung war eine Lawine, die 2020 von der Mündung des Kongo ausging und 1.100 Kilometer in den Atlantik hinausraste.

Doch wie werden solche submarinen Rutschungen zu Mega-Lawinen? Von Schneelawinen oder Erdrutschen ist bekannt, wie sie sich entwickeln und wie stark ihr Volumen vom Anfang bis zum Ende anwachsen kann. Für Unterseerutschungen fehlten diese Informationen jedoch bisher.

Lage des Canyons
Lage des unterseeischen Agadir-Canyons vor der Küste Marokkos und Weg der Unterseerutschung bis weit in den Atlantik hinein. © University of Liverpool

Untersee-Rutschung im Megamaßstab

Jetzt ist es erstmals gelungen, das Wachstum einer Unterseerutschung zu rekonstruieren – an einem der größten Unterseecanyons der Welt. Der Agadir-Canyon beginnt vor der Küste Marokkos und ist 450 Kilometer lang und 30 Kilometer breit. Die tief in den afrikanischen Kontinentalhang eingeschnittene Schlucht zieht sich bis in 1.200 Meter Tiefe in den Atlantik hinaus. Aus geologischen Untersuchungen ist bekannt, dass sich in diesem Canyon immer wieder große Rutschungen lösten.

Eines der letzten und größten Ereignisse dieser Art war die sogenannte „Bed 5“-Rutschung vor knapp 60.000 Jahren. „Dieser Suspensionsstrom umfasste rund 162 Kubikkilometer Sediment und legte die außergewöhnliche Distanz von mehr als 2.000 Kilometer zurück“, berichten Christoph Böttner von der Universität Kiel und seine Kollegen. Um zu klären, wo und wie diese Unterseelawine entstand und wie sie sich entwickelte, haben sie mehr als 300 Sedimentbohrkerne aus dem Agadir-Canyon und seinem Umfeld analysiert und den gesamten Unterseecanyon mittels Sonar kartiert.

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Durch Schlamm, Tempo und Riesen-Canyon begünstigt

Die Auswertung enthüllte das gigantische Ausmaß der Agadir-Rutschung: Sie bildete eine rund 200 Meter hohe Lawine, die mit rasender Geschwindigkeit in die Tiefe raste – und alles um sich her mitriss. „Diese Rutschung hatte die Höhe eines Wolkenkratzers und raste mit mehr als 65 Kilometern pro Stunde den Hang hinunter“, berichtet Koautor Christopher Stevenson von der University of Liverpool. „Sie bedeckte am Schluss eine Fläche größer als Großbritannien unter gut einem Meter Sand und Schlamm.“ Die Erosionsspuren sind auf einer Fläche von rund 4.473 Quadratkilometern entlang der gesamten Länge des Canyons nachweisbar.

Möglich wurde die enorme Wucht und Reichweite der Unterwasser-Lawine durch eine Kombination mehrerer Merkmale. Zum einen rutschte das Sediment mit besonders hohem Tempo ab, wodurch die Lawine entsprechend Schwung bekam. Zum anderen bestand der Meeresgrund in diesem Gebiet aus feinem, tonigem Schlamm. „Der Zusatz von Schlamm erhöht die Reichweite und die Transportkapazität auch für gröbere Partikel“, erklären die Forschenden. Denn die feinen Partikel bleiben lang in der Schwebe, fördern aber gleichzeitig den Zusammenhalt des Suspensionsstroms.

„Letztlich wurde das Bed-5-Ereignis nur durch den Querschnitt des Canyons begrenzt“, erklären Böttner und sein Team. „Weil dieser außergewöhnlich groß ist, konnte die Rutschung zu einem katastrophalen, gewaltigen Ereignis werden.“

Verblüffend kleiner Auslöser

Doch wo und wie ist diese Mega-Rutschung entstanden? Auch das konnte Böttner und seine Kollegen klären. Demnach muss der Auslöser im südlichen Teil der Canyon-Zuflüsse liegen – tief eingekerbten, verzweigten Strömungsbetten oberhalb des Schluchtbeginns. Dort könnte sich der gesamte Meeresgrund in einer geschlossenen, bis zu 30 Meter dicken Schicht gelöst haben. Dieses großräumige, aber flache Hangversagen könnte nach Angaben der Forschenden auch erklären, warum dort keine klaren Spuren zu sehen sind.

Das Überraschende jedoch: Der Auslöser der gewaltigen Bed-5-Rutschung war vergleichsweise klein – sie umfasste nur rund 1,5 Kubikkilometer. Damit muss die unterseeische Lawine von ihrem Beginn bis zum Ende drastisch an Volumen zugenommen haben. „Das bedeutet, dass diese Rutschung mindestens um das 100-Fache ihrer ursprünglichen Größe heranwuchs“, berichten Böttner und sein Team. Eine solche Volumenzunahme liege um Größenordnungen über der von Geröll- oder Schneelawinen an Land.

Erhöhtes Risiko für Küsten und marine Infrastruktur

Nach Ansicht des Forschungsteams ist die drastische Volumenzunahme dieser submarinen Rutschung aber kein Einzelfall: „Wir gehen davon aus, dass dies ein spezifisches Verhalten von Unterwasser-Lawinen ist“, sagt Böttner. „Wir haben ein ähnlich extremes Wachstum auch schon bei kleineren Rutschungen anderswo gesehen.“ Dass jedoch auch die größten Ereignisse dieser Art relativ kleine Auslöser haben können, ist eine neue Erkenntnis.

„Vor dieser Studie dachten wir, dass große Untersee-Lawinen nur von entsprechend großen Hangversagen ausgehen“, sagt Seniorautor Sebastian Krastel von der Universität Kiel. „Jetzt wissen wir, dass sie klein anfangen können und dann zu extrem starken und ausgedehnten Ereignissen heranwachsen.“

Diese Erkenntnis verändert auch die Einschätzung des Risikos durch solche submarinen Rutschungen. Denn sie können Tsunamis auslösen, aber auch kritische Infrastruktur wie die am Meeresgrund verlegten Unterseekabel zerstören. Wenn sich selbst kleine Hangversagen zu gigantischen Lawinen entwickeln können, ist das Risiko vielerorts wahrscheinlich höher als gedacht. (Science Advances, 2024; doi: 10.1126/sciadv.adp2584)

Quelle: Science Advances, University of Liverpool

 

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